Alle Bilder (c) Detlev Schneider;
BILD Erotik-Bibliothek Nr. 2- Catherine Millet
Ich liebe diese paradoxe Einsamkeit

Ich stehe beim Einkaufen vor prall gefüllten Regalen und mein Kopf ist voller mit Gedanken über den autobiographischen Roman von Catherine Millet, den die 58-jährige Kunsthistorikerin über ihr sexuelles Leben und „für die Frauen“ geschrieben hat. Ich packe die Waren in meinen leeren Wagen. So selbstverständlich wie ich mich bediene und dabei auch Neues, Unprobiertes entdecke und mitnehme, so selbstverständlich beschreibt Madame Millet ihren Sex und die Zahl der Männer (es sollen über 1000 gewesen sein!), an denen sie sich bedient hat. Es gibt kaum einen sexuellen Akt den Catherine M. nicht bis ins Detail beschreibt und dabei erstaunlich sachlich bleibt: „Damals war ich das Objekt der Männer. Aber durch das Buch habe ich mich wieder zum Subjekt gemacht und die Männer zu Objekten.“ schreibt sie. Wirklich?
Mich interessiert die Frau, die hinter diesen Beschreibungen steht: „Ich liebe diese paradoxe Einsamkeit“ schreibt sie und weiter: „Sexuelle Frustration stürzt mich in einen Zustand, den ich einen harmlosen Autismus nennen möchte, ich bin völlig abhängig von einem begehrlichen Blick und von der Berührung, die mich bedecken. Dann verflüchtigt sich die Angst, und ich kann wieder meinen Platz in einer Welt einnehmen, die nicht mehr feindlich ist.“ Sie empfindet sich nicht als „hässlich“, aber auch nicht als schön und fühlt sich „eher gehemmt“. „Sexuelle Fantasien sind so persönlich, dass man sie in Wirklichkeit kaum mit anderen teilen kann.“ verteidigt sie sich und bekennt: „Ich sagte schon, dass ich Angst hatte vor zwischenmenschlichen Beziehungen und dass Sex ein Refugium war, wohin ich mich gerne flüchtete.“
Ich setze meine Gedankensplitter wie zu einem Puzzle zusammen. Mein Wagen ist voll und ich steuere die wuchtige Lady an der Kasse an. Dabei denke ich an Catherine: „ Weil ich mich immer, auch heute noch, vor einer größeren Frau, egal wie alt sie ist, wie ein tollpatschiges Kind benehme - bei einem Mann passiert mir das nie.“ Ich lege meinen Einkauf auf das Band - neutral, sachlich, zweckgebunden. Genauso wie Catherine den Sex beschreibt. Mein Fazit: Zwischen den Zeilen hat sie ihre eigentliche „Wahrheit festgehalten“, die Angst vor der Einsamkeit und die Sehnsucht nach Anerkennung. „Man zensiert sich, wo man doch glaubt, alles zu enthüllen.“ Alles sehr menschlich, oder? Das einzige, was mir in diesem freizügigen, jetzt schon als „Klassiker der Erotik“ (erschienen 2001!) bezeichneten Roman fehlt, ist ein bisschen Aufklärung: schließlich ist Aids ist überwiegend weiblich und ungefähr alle zehn Sekunden stirbt jemand an dieser Krankheit. "21 - 22 - 23" zähle ich die Sekunden und schnippe mit dem Finger. Wieder eine weniger. „Und dass wir diese Wirklichkeit als Bild betrachten, hindert die Bäume nicht am Wachsen und die Blätter nicht am Fallen.“ schreibt Catherine Millet.
Ich zahle nachdenklich und gehe.



© Marie Theres Kroetz Relin

Über die Autorin:

Catherine Millet, 1948 in Bois-Colombes geboren, ist Expertin für Moderne Kunst und Chefredakteurin der Zeitschrift art press. Sie war Kuratorin des französischen Pavillons bei der Biennale 1995 in Venedig und bei der Biennale 1989 in São Paulo. Millet hat etliche Bücher und Essays über zeitgenössische Kunst geschrieben. Ihre sexuelle Autobiographie gilt als eines der spektakulärsten Bücher der letzten Jahre, noch nie hat eine Frau so offen und mit solch gelassener Selbstverständlichkeit über ihre intimsten Geheimnisse geschrieben. In Frankreich sorgte das Werk für großen Aufruhr, bis zu 5000 Exemplare gingen dort täglich über den Ladentisch. Auch von der internationalen Presse wurde „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ hoch gelobt, die Rechte in über 20 Länder verkauft. Catherine Millet lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller und Fotografen Jacques Henric, in Paris.

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